
Religionslehrer nach Grazer Amoklauf: "Dasein und Mitertragen"
"Fassungslos": Mit diesem Wort beschreibt der evangelische Theologe Paul Nitsche die Ereignisse des Amoklaufs am 10. Juni an der Grazer Schule BORG Dreierschützengasse - seiner Schule. Nitsche, der dort selbst unterrichtet, erlebte das Attentat mit insgesamt elf Toten selbst mit und steht seither Betroffenen als Notfallseelsorger zur Seite. "An diesem Dienstag ist etwas dermaßen Unvorstellbares eingetreten - etwas, von dem sich niemand hätte vorstellen können, es einmal an sich heranlassen zu müssen", reflektierte er im Interview mit dem "Sonntagsblatt" der Diözese Graz-Seckau. "Was da passiert ist, ist mehr, als unsere Seelen fassen können."
Der Theologe ist seither intensiv in der seelsorglichen Krisenintervention tätig. "Zuhören, Dasein, Mitaushalten - das ist hilfreich. Und wenn's passt, eine Umarmung. Es geht ums Da-Sein und um ein Mit-Ertragen des Unerträglichen", so Nitsche. "Was hingegen nicht gebraucht wird, ist Gequatsche."
Die aktuelle Situation erlebe er nicht als "gefordert", sondern als "überfordert": "Das, was für mich als Pfarrer und Religionslehrer mit vollem Terminkalender sehr ungewöhnlich ist, ist die Unplanbarkeit der kommenden Tage und Wochen. Weil gerade alles immer anders kommt, als man annimmt." Noch sei vieles offen: "Wir wissen nicht, wann wir wieder in der Schule unterrichten können, und wir wissen nicht, wie. Wir wissen auch nicht, wie das sein wird, von den Opfern Abschied zu nehmen." Aber: "Es wird alles gelöst werden, aber es braucht dafür Zeit, wahrscheinlich viel Zeit. Und irgendwann, und das sage ich mit der Erfahrung eines 51-Jährigen, gibt es wieder Normalität. Aber nicht morgen, nicht übermorgen, und auch nicht nächste Woche."
Auch für Menschen, die in solchen Krisen Angst verspüren, sei Verständnis nötig. "In einer ungewöhnlichen Situation kommt es oft zu einer ungewöhnlichen Reaktion, und das ist normal." Selbst Angst, das Haus nicht verlassen zu wollen, sei eine mögliche Reaktion: "Natürlich ist es schade, wenn man bei dieser Reaktion stehenbleibt, aber wenn es guttut, nach solch einem Ereignis nicht aus dem Haus zu gehen, sage ich: 'Passt schon.'"
Der Militärseelsorger mit Erfahrung aus Auslandseinsätzen sprach auch über die spirituelle Dimension von Halt und Hoffnung in der überfordernden Situation. Ein spiritueller Zugang "rechnet mit dem Ewigen", erklärte er. Davon abgrenzend, fokussiere sich die Psychotherapie auf die Ressourcen im Menschen selbst. Das seelsorgliche Gespräch beinhalte hingegen Gott als Dimension: "Gott steht für das, was unverfügbar ist; für das, was größer ist als wir, möglicherweise sogar für eine Hoffnung, die auch über unsere Grenzen hinausgehen kann."
Religiöse Rituale könnten in solchen Krisensituationen Halt geben, wenn sie zur jeweiligen Person passen, zeigte sich Nitsche überzeugt. "Wenn das Vaterunser eine Rolle spielt und eine Tradition ist, dann hilft es gegen Wortlosigkeit und eröffnet ein kollektives Miteinander - im Reden eines gleichen Gebetes, das viel größer ist als wir gerade jetzt." Auch Menschen mit wenig Bezug zum Christentum könnten in dem Gebet "die Kraft von zweitausend Jahren" spüren.
Quelle: kathpress